Zeitungsausschnitt: Interview mit July Delpy

Ein Gespräch über Familie und künstlerischen Schaffensdrang

Ein Interview, das ich 2012 in München für die Zeitung „Welt am Sonntag“ mit der Schauspielerin und Regisseurin Julie Delpy führte:

Familie ist Kampf

Sie ist eine der erfolgreichsten Frauen im internationalen Filmbusiness – und gilt als unprätentiös. Tatsächlich erweist sich Julie Delpy im Gespräch als die Natürlichkeit in Person. Schlichtes graues Jersey-Kleid, flache Schuhe, mehr oder weniger keine Frisur. Fast scheu wirkt die Französin, als sie einem flüchtig die Hand drückt und dabei mit einem Hauch Skepsis in die Augen schaut. „Hi, how are you doing?“ Dann setzt sie sich, sagt nichts mehr, wartet auf Fragen zu ihrem neuen Film „Familientreffen mit Hindernissen“, bei dem sie Regie führte und in dem sie selbst mitspielt. Begeistert sieht sie nicht gerade aus. Delpy leide nach dem langen Flug von Los Angeles nach Deutschland noch unter einem Jetlag, hatte die Pressefrau gewarnt. Und ihr dreijähriger Sohn Leo halte sie auf Trab. Moderner Familienstress. Womit wir beim Thema wären.


Der Film spielt in den 1970er-Jahren und ist auch aus ihren eigenen Kindheitserinnerungen entstanden. Sehnen Sie sich nach den alten Zeiten zurück?
Die Menschen, die Familien, kommen heute einfach nicht mehr zusammen. Ich glaube, es hat zum einen mit der Globalisierung zu tun: Alle sind überall auf der Welt verstreut, der Eine lebt hier, der Andere dort. Und zum Anderen sind es unsere Werte, die sich absolut nicht zum Guten verschoben haben: Die Leute sind heute doch nur noch damit beschäftigt, Geld zu verdienen und in den Augen der anderen Erfolg zu haben.


Und das war früher anders?
Mir scheint, die Menschen haben ihre Fähigkeit zu genießen verloren. Sie haben das Vergnügen einfacher Momente mit dem angeblichen Vergnügen ersetzt, etwas zu konsumieren. In den 70er-Jahren war das definitiv noch anders. Speziell im Frankreich meiner Kindheit. Die Generation meiner Eltern war um einiges freier als meine.


In Ihrem Film spielen Sie Ihre Mutter, die vor drei Jahren gestorben ist. War das eine Art Trauerarbeit?
Zweifellos ist „Familientreffen mit Hindernissen“ eine Hommage an meine Mutter. Es war eine schreckliche Zeit für mich, als sie starb. Selbst nach ihrem Tod versuche ich noch, sie glücklich zu machen. Eigentlich hatte ich, als ich vor vielen Jahren das Drehbuch für den Film schrieb, eine ganz andere Rolle für mich vorgesehen. Aber dann beschloss ich, sie zu spielen. Auch weil ich jetzt ungefähr so alt bin wie meine Mutter in der Zeit, von der die Geschichte handelt. In meinem Film „2 Tage Paris“ hat meine Mutter noch selbst mitgespielt. Und auch mein Vater war mit von der Partie, ebenso wie er es in „2 Tage New York“ und jetzt auch in „Familientreffen mit Hindernissen“ ist. Sie sehen: Ich bin ein Familienmensch.


Es heißt, Sie seien in anarchischer Freiheit aufgewachsen. Ihre Eltern haben Untergrundtheater in Paris gemacht. Linksintellektuelles Künstlermilieu.
Es war nicht perfekt, aber großartig! Meine Eltern waren ein bisschen verrückt, aber sie waren eine Inspiration für mich. Sie brachten mir haufenweise Kultur nahe, Literatur, Kino, Kunst, Philosophie. Und sie waren sehr liebevoll. Das war es, was zählte. Denn Geld hatten wir nie. Meine Eltern schafften es kaum, mich aufzuziehen. Wir haben in winzigen Wohnungen gewohnt und teilweise war ich bei meiner Großmutter untergebracht. Meine Großmutter hat streckenweise sämtliche Kinder aus meiner Verwandtschaft großgezogen! So was gibt es heutzutage ja auch kaum noch.


Weil die Alten ewig jung bleiben?
Genau. Großeltern sind gar keine Großeltern mehr. Sie wollen auch noch mit 70 ihren Fun, ihre Partys. Meine Großmutter war damit durch, als sie 70 war. Sie kleidete sich wie eine alte Frau und zog ihre Enkel groß. Das ist vielleicht auch so was, was in den Familien heute fehlt. Gleichzeitig war meine Großmutter aber auch immer ziemlich cool. Sie ist jetzt 100 und interessiert sich immer noch für Details aus meinem Liebesleben. Jedenfalls, was meine Kindheit angeht: Ich habe da ganz sicher meine positive Lebensenergie, meine Kreativität, denn Sinn fürs Unperfekte her.


Sie haben einen Film über eine sehr französische Familiensituation gemacht. Sehr lustig geht es da zu. Es wird gegessen, getrunken, gestritten, gesungen, getanzt. Wie halten Sie es da nur schon seit zwanzig Jahren ohne ihre Sippe in Los Angeles aus?
Insgesamt mag ich mein Leben dort. Ich habe meine Freunde, die aus den unterschiedlichsten Kulturen stammen, allesamt nicht zum amerikanischen Mainstream gehören. Dennoch vermisse ich in der Tat die Art der Franzosen, wie sie zum Beispiel mit Familie umgehen, wie sie stundenlang zusammensitzen, bei endlosen Mahlzeiten, die mittags beginnen und nachts erst enden. Als gäbe es nichts Wichtigeres im Leben. Und immer sind die Kinder dabei. Das ist so offen und intensiv. Solche Momente wollte ich zeigen. Keine klassische Handlung, sondern spannende, schräge Figuren, die eine Geschichte erleben, die kaum dramaturgische Elemente enthält. Denn für mich sind es genau diese banalen Momente des Lebens, wenn so gut wie gar nichts passiert, mit denen man am meisten ausdrücken kann.

„Worum es im Leben wirklich geht: zusammen sein.“

July Delpy


Und was lehrt uns das?
Vielleicht, worum es im Leben wirklich geht: zusammen zu sein, sich selbst und die anderen zu spüren, sich über Gott und die Welt auseinanderzusetzen. Das ist für mich Lebensfreude. Die Leute in meinem Film sind ganz bei sich. Sie sind wie sie sind. Menschlich. Und sich drücken sich sehr frei aus. Auch politisch. Ich mag das. In meinem Film streiten Linksintellektuelle mit Konservativen, aber sie reden miteinander. Und sie mögen sich.


Seit acht Jahren sind Sie mit dem deutschen Filmkomponisten Marc Streitenfeld zusammen und haben mit ihm einen Sohn, den dreijährigen Leo. Wie läuft Ihr Familienleben ab?
Es ist ein täglicher Kampf! Ich meine, wir streiten nicht. Aber wir mühen uns ab. Ein Kind groß zu ziehen, ist ja so hart … Jeden Tag wundere ich mich, dass ich es wieder geschafft habe. Eigentlich denke ich andauernd, ich breche jetzt zusammen. Marc und ich arbeiten beide, Marc sogar noch mehr als ich. Und wir haben nicht viel Hilfe. Nur eine Babysitterin, die ein paar Stunden am Tag zu uns kommt. Aber nicht zehn Nannys rund um die Uhr wie andere Leute in Hollywood. Wir müssen ständig aufs Neue aushandeln, wer wann seine Arbeit machen kann, wer bei Leo bleibt.


Klingt stressig.
Auf der anderen Seite sind wir dadurch mit unserem Kind natürlich auch sehr eng verbunden, und das genießen wir. Mein Kind ist mir das Wichtigste. Das hat mich selbst überrascht. Ich bin ja erst mit 39 Mutter geworden, war davor nicht gerade der besonders mütterliche Typ. Aber jetzt … Manche meiner Freunde nennen mich „mother bear“! Was so viel bedeutet wie: Niemand sollte es wagen, sich zwischen mich und meinen Sohn zu stellen, dann werde ich gefährlich.


Ist die Kindheit Ihres Sohnes mit Ihrer eigentlich noch vergleichbar?
Ich weiß nicht … Stichwort Konsum. Leo ist versessen auf Geschenke. Und daran sind wir schuld. Weil wir so viel weg sind und uns dann schlecht fühlen, haben wir ihm ständig Geschenke mitgebracht. Jetzt hat er all diese Sachen und spielt gar nicht damit! Die ganzen Spielsachen machen ihn nicht glücklich! Aber er will trotzdem dauernd neue Geschenke. Das ist doch absurd.


Und jetzt?
Mir ist klar geworden, ich muss das sofort stoppen. Also habe ich ihm erzählt, dass den Sommer über alle Spielzeuggeschäfte geschlossen sind. Er glaubt mir nicht, aber ich bleibe dabei: Alle Spielzeuggeschäfte geschlossen, drei Monate lang. Armer Junge! Sie sehen, auch dies ist ein Kampf. Manchmal weiß ich nicht, wie man’s richtig macht. Kürzlich hat Leo von einem Freund so eine Superman-Figur geschenkt bekommen. Vorher hat er sich beim Spielen immer noch etwas Kreatives einfallen lassen, jetzt gibt es für ihn nichts anderes mehr als diese komischen Superhelden aus Plastik. Was sagt man denn da? Wie steuert man das? Einerseits will man, dass das Kind kreativ ist, andererseits soll es aber nicht so ein armes Wesen sein, das mit Holzbauklötzen allein in der Ecke sitzt, während die anderen Kinder Superhero spielen. Ich hab kein Rezept. Aber mein Lebensgefährte und ich versuchen auf jeden Fall unser Bestes.


Ihr Lebensgefährte … Man sagt von Ihnen, dass Sie früher viele Affären hatten und oft unglücklich verliebt waren. Sind Sie mit Marc jetzt angekommen?
Nein. Kommt man je irgendwo an? Außerdem: Heute sind es andere Probleme. Man muss viele Kompromisse machen in einer festen Partnerschaft. Es ist nicht leicht, nichts ist leicht. Ich vergleiche die Herausforderung in einer Beziehung gerne mit der Entstehung des Universums. Es habe dabei, heißt es, in etwa genauso viel Materie wie Antimaterie gegeben, nur ein ganz kleines bisschen mehr Materie. Und wenn es dieses bisschen mehr an Materie nicht gegeben hätte, wäre nie etwas entstanden, alles vernichtet worden. Genauso ist es meiner Meinung nach in einer Partnerschaft. Es könnte ein Desaster sein, man könnte sich gegenseitig vernichten. Aber da ist diese kleine Portion Materie, die den Unterschied macht. Und um die muss man ringen. Jeden Tag.


Sind Sie schwermütig?
Ich bin Gott sei Dank nicht depressiv. Aber in der Tat nehme ich nichts leicht. Da ist eine dunkle Seite in mir. Ich habe meine Neurosen, Selbstzweifel, Ängste. Sie werden es nicht glauben, aber ich bin ziemlich unsicher und nie zufrieden mit mir. Und ich kann manchmal wochenlang nachts nicht schlafen, weil mich irgendein düsterer Gedanke plagt. Ich habe Angst vor dem Fliegen, vor Krankheiten, vor dem Tod. Ich kann mich da unglaublich reinsteigern. Seit Ewigkeiten schlage ich mich damit herum. Es ist hart. Aber irgendwie gewinnt auch immer wieder etwas Positives die Oberhand. Das habe ich von meiner Familie – meinen Humor und auch so einen Kampfgeist, sich einfach nicht unterkriegen zu lassen, immer wieder aufzustehen. Vielleicht sind meine Obsessionen ja auch einfach meine Art, für Abwechslung im Leben zu sorgen, den Alltag ein wenig aufzubrechen. Mein persönlicher Adrenalinstoß.


Abwechselung? Sie brauchen wirklich Abwechslung? Sie machen doch Filme, sind umgeben mit Menschen, die man aus der Zeitung kennt. Man stellt sich Ihr Leben eigentlich ziemlich aufregend vor …
Das mag von außen vielleicht so aussehen, aber glauben Sie mir: Mein Leben ist nicht besonders ereignisreich. Okay, ich mache Filme, ich reise viel … Aber ich meine, ich bin nicht James Bond. Ich bin kein Held. Ich bin schon froh, wenn ich es wieder mit einem Flugzeug von Amerika nach Europa geschafft habe. Dann fühle ich mich wie James Bond! So gesehen sind es meine Neurosen, die mir einen Kick verschaffen.


Haben Sie Angst vor Langeweile?
Das nun auch wieder nicht. Denn ich langweile mich eigentlich nie. Mein Problem ist eher, dass der Tag nicht genug Stunden hat. Wenn ich könnte, würde ich am liebsten außer Filme zu machen auch noch andauernd mit meinem Kind spielen, mit meinen Freunden zusammen sein und gleichzeitig schreiben und Musik machen und alles Mögliche tun.

„Du musst ein bisschen durch die Hölle, damit am Ende etwas Kreatives daraus entsteht.“

July Delpy


Und woher kommt dieser Schaffensdrang?
Aus der Dunkelheit!? Ein Freund von mir hat mal gesagt: Fantasie gibt es nicht umsonst. Ich mag diesen Satz. Er bedeutet: Du musst ein bisschen durch die Hölle, damit am Ende etwas Kreatives daraus entsteht. Die Düsterheit verschwindet erst, wenn ich sie künstlerisch verarbeitet habe.


Nicht nur Familie ist eines Ihrer Themen. Auch Sex. Im aktuellen Film reden Ihre Figuren andauernd und teils drastisch über Sex. Auch schon in „2 Tage Paris“ und „2 Tage New York“ war das so. Eine weitere Obsession von Ihnen?
Ja! Weil es ein lustiges Thema ist. Ich liebe es, humorvoll und spielerisch damit umzugehen. Das ist auch so was Französisches, dem ich nachhänge. Ebenso wie mir der Familiensinn der Franzosen abgeht, vermisse ich ihre Art, mit Sex umzugehen. Es gibt in Frankreich eine ausgeprägte Kultur, über Sex zu reden und Witze darüber zu machen. Und wir haben eine Reihe großer Intellektueller in Frankreich, die sich ständig mit Sex beschäftigten. De Sade, Diderot, Bataille – sie alle waren sexbesessen, aber intellektuell! Das ist eine ganz andere Kultur als etwa in Amerika, wo Sex entweder Pornografie oder Romantik ist, nichts dazwischen. Das ist mir zu langweilig.


Sind Sie nicht romantisch?
Ich kann mich nicht erinnern. Ich bin zu lange in einer festen Partnerschaft.


Das meinen Sie ironisch!
Das ist der Stoff, aus dem meine Komödien sind …