Zeitungsausschnitt Artikel "Sehnsucht nach dem einfachen Leben"

Die Geschichte einer Frau, die das Glück suchte und fand

Die Sehnsucht nach dem guten Leben – ein Thema von ungebrochener Aktualität. Und dann ist das Ganze auch noch eine wirklich archetypische Geschichte, die wie von selbst alles enthält, was einen guten Stoff ausmacht. Die Protagonistin Stefanie Sommer, die ich 2015 für das Magazin ma vie portraitierte, ist das, was der amerikanische Schriftsteller Kurt Vonnegut in seinen „Shapes of Stories“ als einen Menschen in einem Loch beschreibt: „Man in a hole“ nennt er das Konzept und definiert es als den Spannungsbogen schlechthin: „Somebody gets into trouble, gets out of it again.“ Punkt. „People love that story, they never get sick of it.“ Also hier ein Beispiel klassischen Storytellings:

Sehnsucht nach dem einfachen Leben

Eigentlich hat Stefanie Sommer alles gehabt. Einen gut bezahlten Job bei einer der großen Filmproduktionsfirmen in München, Promis und Glamour um sich herum, ein schönes Haus in einer wohlhabenden Gegend am Stadtrand, Freunde, Familie. Aber etwas stimmte nicht. In der Arbeit saß sie von morgens bis abends in einem Büro, das ihr die Luft zum Atmen nahm. Die Fenster ließen sich nicht öffnen. Und Stefanie tat den ganzen Tag Dinge, die andere Leute von ihr verlangten. War nonstop verfügbar, nur nie bei sich. Sie betreute Drehbücher fremder Autoren, obwohl sie nur eins wollte: selbst schreiben. „Aber ich musste ja von irgendwas leben.“ Also funktionierte Stefanie. Bis chronische Rückenschmerzen und ein Ausschlag im Gesicht kamen. Der Bürostuhl und die ständige Schminkerei seien dafür verantwortlich, redete Stefanie sich ein. Dabei wusste sie tief im Inneren, dass das Problem ein größeres war. Es war ihr Dasein „als armseliger Bürozombie“.

Per SMS die Kündigung

Irgendwann ging es dann nicht mehr. Um nicht zu platzen, fuhr Stefanie eines Tages statt in die Arbeit raus in die Natur, setzte sich an einen Bergsee, blickte auf das türkis glitzernde Wasser – und schrieb ihrem Chef per SMS die Kündigung. Spontan. Es war eine Eingebung. Sie fühlte plötzlich: Der Bergsee ist es. Sie war im falschen Leben in dieser Businesswelt. Sie musste da raus. Es würde irgendwie weitergehen. „Das war der Tag, an dem mein Weg in ein wildes, freies Leben begann.“

Es klingt unbekümmert, wenn sie so etwas heute sagt. Stefanie hat so etwas Unversehrtes, Frisches an sich. Sie ist jetzt 41 und sieht aus wie ein junges Mädchen. Mit strahlenden Augen, meist einem Lächeln im Gesicht, gerne einem lockeren, bayrisch eingefärbten Spruch auf den Lippen. Ihre Not von damals merkt man ihr nicht mehr an. Wohl, weil sie angekommen ist. Wobei der Weg mühsam war. Und heute auch alles anders aussieht als ursprünglich erträumt.

Portraitfoto von Stefanie Sommer
Endlich im richtigen Leben angekommen: Aussteigerin Stefanie Sommer

2006, nach ihrer Kündigung, hatte Stefanie – wie wahrscheinlich alle, die ans Aussteigen denken oder es tun – noch eine Idylle vor Augen. Konkret: einen „wildromantischen Bergtraum“. Stattdessen zog sie der billigeren Miete wegen erstmal nach Oberbayern aufs flache Land und schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch. Gut drei Jahre ging das so. Unter anderem war sie Anzeigenverkäuferin – was sie nur in einer Hinsicht weiterbrachte: Ein Mann trat in ihr Leben. Ihr Chef, der Anzeigenleiter mit dem dicken Audi, entpuppte sich als Naturbursche. Privat trug Bernhard Holzfällerhemd und Jeans. Stefanie zog bei ihm ein. Alles passte. Bis auf dass den beiden eben immer noch nach einer anderen Existenz war. Und die Chance kam: Die Breitenberghütte im Wendelsteingebirge neue suchte neue Pächter!

„Es waren die Worte Hütte und Wendelsteingebirge, die mich direkt ins Herz trafen“, erinnert Stefanie sich. Das war es. Das wollte sie. Das wollte auch Bernhard. Es war der Ausstieg. Mit nur dem Nötigsten im Gepäck zogen Stefanie und Bernhard 2010 in die Berge, wurden Hüttenwirte. Es sah nach dem großen Glück aus.

Magische Momente in den Bergen

Hier oben gab es „diese magischen Momente“, in denen Stefanie und Bernhard ganz für sich waren und das Leben spürten. Etwa wenn sie abends, nachdem der letzte Gast gegangen war, müde von der körperlichen Arbeit auf ihrer Terrasse saßen und schweigend ins Tal blickten, Stefanies Kopf an Bernhards Schulter gelehnt. Da fühlten sie: Mehr brauchen sie nicht. Aber es waren eben nur Momente. Letztlich drehte sich auch auf der Hütte wieder alles nur um andere. Um die Gäste, ja „Gästemassen“, für die gekocht und geputzt werden musste. Rund um die Uhr. Zum Schreiben kam Stefanie hier nicht. Nach zwei Jahren gestanden die beiden sich ein: Aus der Traum. Zu viel Arbeit für zu wenig Geld. Stefanie weinte, als sie für immer den Berg runterging, während Bernhard den Unimog mit ihrer beider Hab und Gut zurück ins Tal lenkte. Es zerriss ihr das Herz, denn die Hütte hatte ihr „mehr Glück und Leben geschenkt als alles zuvor“. Aber es waren auch bittere Tränen dabei. Weil ja wieder etwas gescheitert war.

„Vielleicht musste ich erst alles kriegen, was ich mir gewünscht habe, um herauszufinden, was ich wirklich will.“

Stefanie Sommer

„Ach, vielleicht musste ich erstmal alles kriegen, was ich mir gewünscht habe, um herauszufinden, was ich wirklich will“, sagt Stefanie heute rückblickend. Es ist wieder einer dieser Sätze von ihr. Sie sagt das so fidel. Dabei steckt eine große Weisheit darin. Und nach genau dieser Weisheit sieht ihr Leben heute auch aus.

Foto von Interviewszene
Interview mit Stefanie Sommer und ihrem Lebensgefährten Bernhard – in ihrem Haus in den bayerischen Bergen

Nach ihrem Auszug aus der Hütte haben Stefanie und Bernhard sich – mit Erspartem und Geld von der Bank – ein ehemaliges Zollhaus an der bayerisch-österreichischen Grenze gekauft. Wieder in den Bergen. Und weit weg von anderen. Aber romantisch? Das Haus ist ein 250 Quadratmeter-Koloss aus dem 19. Jahrhundert im so genannten „Außenbereich“, zehn Kilometer vom nächsten Ort entfernt. Es steht auf einem Riesengrundstück, inmitten von Bäumen, in einer Senke etwas unterhalb einer Passstraße. Ein Bach führt durch das Gelände. Ein Traktor und ein alter Mercedes-Geländewagen sind zu sehen. Gefällte Bäume. Eine Motorsäge. Mehr nicht. Kein Blumenbeet weit und breit, kein Obstbaum, keine einladende Sitzecke im Garten. Nur eine einsame Matratze liegt auf einer Palette unter einem rot-weißen Sonnenschirm am Bach. Karg ist es hier. Als ahnte Stefanie die Fragen im Kopf der Besucher erklärt sie: „Wir mussten das Haus erstmal bewohnbar machen.“

Foto vom Garten.
Einfach eine Matratze auf Holzpaletten und ein kleiner Sonnenschirm am Bach: perfekter Arbeitsplatz im Freien!

Seit drei Jahren leben Stefanie und Bernhard jetzt hier. Sie haben mit ihrer eigenen Hände Arbeit das feuchte Gemäuer trocken gelegt, Wasser- und Stromleitungen erneuert, Böden freigelegt, Verkleidungen von den Wänden gerissen, tonnenweise Schutt und altes Zeug herausgeschafft. Nur weniges behalten. Einen Ofen hier, eine Kommode da. Was zum Leben nötig ist. „Technisch sind wir so gut wie durch. Ästhetisch geht noch was“, sagt Stefanie, ganz ohne Koketterie. Und sie gibt zu, dass sie „manchmal auch nicht mehr mag“, weil die Renovierung endlos erscheint. Aber sie nimmt das in Kauf. Denn sie hat etwas anderes gewonnen: Freiheit und Zeit. „Selbstbestimmt sein und bis an mein Lebensende schreiben“, das ist heute ihr Traum. Oder besser: ihre Priorität. Denn die hat sie gesetzt.

Zwar müssen Stefanie und Bernhard noch Geld verdienen – er als Holzfäller und Trainer in einem Hochseilklettergarten, sie mit Texten fürs Internet und der Organisation von Hochzeiten für ein Berghaus in der Nähe. Aber die Jobs sind frei und nebenbei. Sie haben keine Macht mehr über die beiden. Was ihr Leben heute bestimmt, ist das Leben selbst. Essen, Kochen, Schlafen. Holz hacken, den Küchenherd einschüren, Getreide mahlen, Brot backen. Und: Hier, im alten Zollhaus in der Einsamkeit, hat Stefanie endlich ihr Buch geschrieben – ihre Geschichte über das „Aussteigen auf Bayerisch“. An einem zweiten arbeitet sie. Sie steht morgens um sechs Uhr auf, ab sieben sitzt sie an ihrem Laptop. Bis 13 Uhr ist Arbeitszeit. Danach frei.

Foto von Stefanie Sommer mit ihren Hunden.
Tägliches Ritual für Stefanie: lange Spaziergänge mit den Hunden, querfeldein, an einsame Plätze…

Dann geht Stefanie raus, wandert in die Berge, querfeldein fernab der Wege, zu einsamen Almen. Oder sie spaziert mit ihren Hunden Bobby und Bine durch den Bach zu ihrer „Philosopheninsel“, wie sie sie nennt, weil sie hier gut Nachdenken kann. Über das Leben. Ihr Leben, in dem heute trotz Entbehrungen alles stimmt.

Fotos: Quirin Leppert